Traumgewandelt
Motorpsycho zeigten im Schlachthof ihre Liebe zu Jazz und
Avantgarde-Rock. Ergebnis: Euphorie im großen Stil
Konzerte von Motorpsycho sind auf mindestens zwei Ebenen
interessant: Zum einen löst die Band aus Trondheim mit einer
gewissen Regelmäßigkeit ein, was der Besuch eines Rockkonzerts im
besten Fall verheißt (Euphorie und so weiter), zum anderen bleibt
interessant, mit welchen Mitteln Motorpsycho vorgehen.
Was ersteres angeht, haben Motorpsycho am Donnerstag im
ausverkauften Schlachthof wieder voll hingelangt. Scheinbar
erreichten sie dieses mit alten Mitteln, indem sie viele alte und
älteste Stücke spielten, innert derer sie dann häufig in den Duktus
des Improvisierens verfielen, der ihre Konzerte Mitte der Neunziger
in stundenlange Trip-Rock-Exzesse verwandelte. So auch jetzt wieder,
wenn das mittlerweile traumwandlerische Zusammenspiel der Band in
Soundkathedralen kulminiert, in denen die immer noch relativ
schlichte Improvisationssprache neue Facetten zeigt. Die dann
wiederum in den eingestreuten knappen Pop-Songs wiederzufinden sind.
In den neuen Facetten könnte der Schlüssel für die zukünftige
Entwicklung liegen: Motorpsychos jüngstes Album mit dem
halbironischen Titel "Its A Love Cult" hinterließ schließlich mehr
Fragen als Antworten. Der orchestrale Pop, auf Alben wie "Let Them
Eat Cake" und "Phanerothyme" erforscht, wurde erfolgreich in die
Klangwelt Motorpsychos integriert. Und nun? Am Donnerstag gab es
wenig aus dieser Pop-Zeit zu hören, und wenn, waren es eher die
merkwürdigeren Stücke, wie "Stained Glass" oder "Painting The Night
Unreal".
Was Motorpsycho auf ihren "Roadworks"-Live-Alben probieren,
könnte so womöglich in einer gründlich verdauten Form auch zunehmend
die "Hauptwerke" beeinflussen: Eine Vorliebe für freien Jazz und
Avantgarde-Rock. Schwere Drones und die gelegentliche Überwindung
der tonalen Vorgaben des Genres "Rock" trugen dem am Donnerstag
Rechnung. Und die einzige Fremdkomposition - ein Song von MC5, bei
denen sich Punkrock und Sun Ra schon in den 60-ern keinesfalls
ausschlossen.
Dass den Norwegern unterdessen eine immer größer werdende Schar
von Fans nachfolgt, die auch größere stilistische Kapriolen
mitschlägt, liegt wohl daran, dass Motorpsycho ihr Spiel nicht
strategischen Überlegungen unterordnen, sondern einfließen lassen,
womit sie sich gerade beschäftigen.
Wenn die Ergebnisse gelingen, werden sie auch veröffentlicht. Von
der Band benutzte Papiertaschentücher, wie sie nach dem knapp
zweieinhalbstündigen Konzert von euphorisierten Fans als
Devotionalien eingesammelt wurden, gehören da auf eine ganz verquere
Art auch dazu, ohne dass man das der Band irgendwie anlasten
könnte.
Andreas Schnell
taz Bremen Nr. 6894 vom 2.11.2002, Seite 29, 103
Zeilen (Kommentar), Andreas Schnell,
Rezension
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