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  [media stories: norwegian: 2000]



Kontrollverlust Iz a Pose,
Konzentration Iz a Laifschteil

Article around the release of Let Them Eat Cake taken from the
German indie-magazine
SPEX #231 / February 2000.
In German.


Motorpsycho - oder wie aus dämonischen Engeln und monströsen Schneestürmen "Pet Sounds" wurde.

Motorpsycho ... und sie essen wirklich Kuchen  
[ ...und sie essen wirklich Kuchen... ]
Foto: Sebastian Mayer
 

Am 31.12.1999 spielte der norwegische Radiosender P3 24 Stunden lang immer wieder denselben Song. Die P3-Hörer hatten ihr Lied des Jahrtausends gewählt: "Vortex Surfer". "Vortex Surfer" ist Motorpsychos "Stairway to Heaven". Verdichtet auf neun Minuten wirken die vulkanischen Kräfte, die die Arbeit von Motorpsycho in den letzten zehn Jahren angetrieben haben. Zu Glockenspiel und behutsam anschwellender Akustikgitarre setzt eine verlorene Stimme ein. Eine zweite Gitarre variiert zunächst vorsichtig, dann forscher, die Gesangsmelodie. Nach viereinhalb Minuten wird das Zusammenspiel von brachialen Gewalten auseinandergerissen. Karthatischer Lärm explodiert. In großen Spiralen winden sich die Riffs weg vom Zentrum. Hilflos schreit die Stimme gegen die Auflösung an und verliert sich in einer Feedback-Supernova. Sein und Zeit, Werden und Vergehen. Kosmische Größenordnungen – drunter geht es bei Motorpsycho kaum. Zumindest bisher. Die neue Platte ist anders. Üppiger. Expressivität und Kontrollverlust sind einer Konzentration aufs feine Detail gewichen, statt mit Rückkopplungen sind die Melodien nun mit Streichern und Bläsern orchestriert. Ein Schritt zurück nach vorn in die 60er, dahin, wo sich Arthur Lee, Brian Wilson und Syd Barrett gute Nacht sagen.

»Gebhardt«. Motorpsychos Drummer stellt sich mit Nachnamen vor und entschuldigt sich sofort für seine nagelneuen Birkenstocks. Der Mann ist freundlich, die Ruhe selbst. Die Schuhe passen gut zu seiner Strickjacke. Es ist einer dieser deprimierenden, nasskalten Winterabende in Berlin. Wir sitzen uns in einem Hotel-Separée gegenüber, dessen Einrichtung an die gute Stube von Norman Bates' Mama erinnert. Ich frage nach dem Winter in Norwegen. Nun, viel bekämen sie nicht mit vom Winter, sagt Gebhardt. In ihrem Proberaum bemerke man nichts davon. Motorpsycho proben hinter sieben Meter dicken Betonwänden in Dora 1, einem U-Boot-Bunker, mit dem sich die Nazis für immer in den Hafen von Trondheim eingeschrieben haben. Sprengen läßt sich das Ungetüm nicht, sonst würde die halbe Stadt weggerissen. In den letzten Monaten haben Motorpsycho die Gewölbe von Dora 1 nur selten verlassen. Eigentlich hätte »Let Them Eat Cake« bereits im Herbst erscheinen sollen, 25 Songs waren auch schon halb fertig, aber am Feinschliff mussten sie lange herumlaborieren. Kein Wunder. Während die früheren Platten meist innerhalb weniger Tage als Resultat intensiver Drei-Mann-Sessions entstanden, war hier, abgesehen von der Kernband, ein 13-köpfiges Musikerensemble am Werk: »Wir wollten unseren Focus verschieben, soviel Information wie möglich in drei, vier Minuten zwängen,« sagt Saether. »Das größte Problem dabei war, unsere Instrumente behutsamer einzusetzen als bisher, um die komplizierten Arrangements nicht zu übertönen.« Motorpsychos »Revolver«-Album klingt filigraner und zurückhaltender als alles, was sie bisher hervorgebracht haben. Dennoch wirkt diese Platte nicht wie ein harter Bruch mit dem, was war, sondern wie eine konsequente Fortführung der Strategie, die selbst gesetzten Standards immer wieder zu überschreiten. Am Ende fügt sich »Let Them Eat Cake« ebenso stimmig ins Gesamtbild von an die dreißig Veröffentlichungen wie »The Tussler«, ein Ausflug ins Reich eines imaginären B-Western, der unvermittelt auf das Maximal-Opus »Demon Box« folgte.

Anfangs hat man Motorpsycho da und dort eingeordnet und mit dieser und jener anderen Band verglichen. Mittlerweile sind sie selbst zum Maßstab geworden. Oft ist ihre ideelle Nähe zu The Notwist diskutiert worden. Was sie tatsächlich mit den Weilheimern verbindet, ist die seltene Fähigkeit, mit Versatzstücken aus dem Steinbruch der Popgeschichte zu hantieren, ohne eklektisch zu klingen. Aber die Vitalität des Phänomens Motorpsycho hat noch zwei andere Gründe: Ihre fanatische Gefolgschaft und ihre unglaubliche Produktivität auf anhaltend höchstem Niveau. Mit ihren ausgedehnten Touren durch immer größere Hallen haben sich die drei Norweger den Status von Wunderheilern für von Verlusterfahrungen geplagte Indie-Rocker erspielt. Wenn Motorpsycho die Bühne betreten, und sei es am hundertsten Abend in Folge, steuern sie mit äußerstem Einsatz befreiende Momente an, in denen die Verlorenheit und die Zweifel, die Hoffnung und die Liebe für Band und Publikum gleichermaßen im Sound der Musik aufgehoben sind. Saether: »Es ist kaum zu fassen, wieviel unsere Musik manchen Leuten zu bedeuten scheint,« sagt Saether, »Wir bekommen Mails wie: 'Könntet ihr beim Konzert in meiner Stadt bitte unbedingt diesen einen Song spielen, das ist der Song, den mein bester Freund immer hörte, bevor er sich umbrachte.' Das ist der Punkt, wo es wirklich beängstigend wird.«

Die Frage nach der Quelle ihrer enormen Produktivität tun sie mit einem Achselzucken ab: »Wir machen ja nichts anderes als unsere Musik,« sagt Gebhardt. »Ich frage mich, was andere Bands, die nur alle drei oder fünf Jahre eine neue Platte herausbringen, mit ihrer Zeit anfangen.«

Im Sommer letzten Jahes spielten Motorpsycho im Zelt des Hurricane Open Airs in Scheesel. Vor 4000 Menschen, so vielen wie nie zuvor. Als sie ihre Zugabe »Vortex Surfer« anspielten, schrie der größte Teil des Publikums den gesamten ruhigen Teil des Stückes hindurch, in Erwartung des Ausbruchs, der kommen würde. Am Rande der Bühne bereiteten sich Pavement auf ihren Auftritt vor. Pavements Bassist stand da mit offenen Mund und glotzte. Er konnte nicht fassen, wie es diesen unscheinbaren Typen gelingen konnte, der Menge ein solches Wir-Gefühl mit auf den Weg zu geben.

Heiko Zwirner