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  [media stories: 2001: german]




Motorpsycho on the cover of the Visions magazine in February 2001  

MOTORPSYCHO

Drei wider
den Stillstand

Big cover story on Motorpsycho
taken from the
German alternative rock magazine
VISIONS #95 / February 2001.
German.
Soon to be found at the visions-site ... too ... ;-).


Credibility. Musikalische Finesse. Wunderschöne, zutiefst anrührende Songs. Dynamische Eruptionen. Seit zwölf Jahren vereinen MOTORPSYCHO all dies mit spielerischer Nonchalance zu einem einzigartigen, sich ständig neu erfindenden Mikrokosmos, bei dem die Bewegung gerade die Konstante ist. Das allein ist eigentlich schon Grund genug, die Norweger endlich zu Titel-Ehren kommen zu lassen. Einen aktuellen Anlaß gibt es in Form der "Barracuda"-EP darüber hinaus ebenfalls - allerdings mit unschönen Nebenwirkungen ...


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Ein Gitarrist ein Wort. Mehr noch: eine Tatsache. Nun herrscht an Bands, die sich das hehre Ziel fortwährender kreativer Weiterentwicklung ans Revers gepinnt haben, kein Mangel.

 

Doch im harschen Licht der Realität bleibt davon in der Regel kaum etwas übrig. Im Grunde nämlich gleicht ein solches Unterfangen zumal, wenn man sich dabei auch noch einigermaßen treu bleiben will - der berühmten Quadratur des Kreises.

 

Wagen wir also den Versuch, dem faszinierenden und dennoch so ganz und gar nicht Skandal-umtosten Phänomen Motorpsycho auf die Schliche zu kommen.

 


Auf den ersten Blick mag der Ort des Geschehens wenig einladend oder gar inspirierend wirken: Trondheim, das ist zunächst Industriebrache, totlangweilig. Die meiste Zeit des Jahres wird es früh dunkel in dem norwegischen Städtchen am Polarkreis. Draußen herrscht ab Herbst klirrende Kälte. Als junger, unangepasster Mensch bleiben hier nicht viele Möglichkeiten. Entweder man säuft sich trotz der horrenden Bierpreise bewusstlos, oder man wird Musiker und verscheucht die sich räuspernde Depression im Proberaum. Oder beides. Dann sollte man nach Svartla'mon gehen: Mitten im verwahrlosenden Ex-Arbeiterbezirk Reina hat sich über die letzte Dekade eine kreative Enklade etablieren können, die mittlerweile bei Musikern und anderen Kunstschaffenden in ganz Norwegen als eine Art Gütesiegel gilt. Ein subkulturelles Dorf, ständig latent bedroht vom örtlichen Grundstücksspekulanten-Wahnsinn.

Hier leben, arbeiten, proben, essen und denken auch Bent Sæther, Hans Magnus 'Snah' Ryan und Håkon Gebhardt, die drei Multiinstrumentalisten von Motorpsycho - sofern sie nicht mal wieder irgendwo in Europa live unterwegs sind. 'Proben' ist hier doppelt unterstrichen, Motorpsycho praktizieren nach Eigenaussage nämlich mindestens vier Stunden am Tag, sechs Tage die Woche in einem Refugium, das sie mit sanfter Ironie "den Bunker" nennen.

Seit ihrer Bandgründung im Oktober 1989, damals statt Gebhardt noch mit Kjell Runar "Killer" Jenssen am Drumset, werkeln Motorpsycho so mit schier unerschöpflicher Energie abseits aller Hypes an einem weit verzweigten tonalen Universum, das die Erforschung jedes noch so entlegenen Winkels lohnt. Den Namen dafür hatte man nach dem gemeinsamen Besuch eines Russ Meyer-Specials für sich reklamiert - Mudhoney und Faster Pussycat waren bereits vergeben ...

Weit entfernt vom Standart. Motorpsycho (1999)  
Weit entfernt vom Standart. Motorpsycho
 

Seitdem zieht kein Jahr ins Land, in dem nicht zumindest ein reguläres Album sowie etliche Singles, Samplerbeiträge und sonstige, meist streng limitierte Kuriositäten erscheinen - das sind die Vinyl-Junkies ihren zahlreichen gut informierten Verehrern schuldig. Suchet, und ihr werdet finden! Unter anderen Preziosen wie eine 1996 auf 'Musical Tragedies' veröffentlichte Split-Single mit Schock-Rocker Alice Cooper in rotem oder gelben Sägeblatt-Finish. Oder skuriller noch, den MP-Beitrag zu einem Tribute-Sampler für das norwegische Humoristen-Duo Knutsen & Ludvigsen, der den schönen Titel "Ellediller og Krokofanter" spazieren führt. Ganz zu schweigen von "The Tussler", dem verbüffenden Countryrock-Soundtrack für einen Western des Italieners Theo Buhara. Nie gehört? Logisch: Weder Buhara noch der Film existieren.

All das klingt unverwechselbar nach Motorpsycho - und ist dennoch stets anders, unverbraucht, überraschend, was zumindest teilweise an den gerne hinzugezogenen musikalischen Gästen (allen voran Helge Steen aka Deathprod., der zeitweilig sogar fest zum Line-Up gehörte und der Band heute noch als Co-Producer zur Seite steht) bzw. deren eher Rockmusik-fremdem Instrumentarium (Theremine, Mellotrone, Vibraphone, singende Sägen, Waldhörner, Sampler etc.) liegt.

Zudem sind mit der Zeit die Grenzen, wer von den Dreien nun eigentlich was spielt, mehr und mehr einer allumfassenden Lust am Experimentieren gewichen. Singen tun inzwischen alle, Snah und Frontmann Bent wechseln schon mal Bass und Gitarre, bearbeiten Moog-Taurus-Pedale oder betagte Tasten und überbieten sich gegenseitig in den abgedrehtesten Tunings ihrer diversen Saiten-Gerätschaften. Space is the place - in Motorpsycho-Songs ist quasi immer Weihnachten.

Überhaupt ist das Besondere, das Konstituierende an dieser Band, mit welcher unglaublichen Gelassenheit sie seither auf allen Ebenen Gegensätze transzendiert, ohne sich je selbst zu verlieren. Das fängt schon beim meisterlich begerrschten Spagat zwischen ihrem nationalen Dasein als chartskompatible Popstars (Norweger müsste man sein ...) und einem internationalen Ruf als kredibile, über jeden Zweifel erhabene Underground-Heroen mit restlos ausverkauften, frenetisch gefeierten Club-Touren an. Wahre Fans von Motorpsycho kennen wahrscheinlich jede verdammte Setlist rückwärts.

Stilistisch reicht die Spannweite vom relativ handelsüblichen Grunge-lastigen Metalsound der Frühphase ("Lobotomizer") über hart groovende, zeitgemäße Progrock-Abfahrten mit Sampler-Einsatz und dunklen Goth-Zitaten ("Demon Box", bereits mit Håkon Gebhardt an Bord) bis hin zu den nahezu zwei Stunden feinster, sattester Spacerock-Epik, ausufernden Psychedelia-Exzessen und Noise-Perlen auf dem gigantomanischen Geniestreich "Timothy's Monster". Vom stringenten, kristallin-crispen Indie-Pop auf "Blissard", bis zum rüde hingeworfenen Retro-Rumpel-Charme von "Angels & Daemons At Play".

Erstmals richtig interessant wird es 1993: Auf dem zweiten MP-Longplayer "Demon Box" koexistieren brutal reduzierte Pop-Kracher direkt neben sich minimalistisch entwickelnden Tracks, gespickt mit düsteren Sound-Collagen. Zumindest die einheimische Musikpresse erkennt das enorme Potential des Trios und bezeichnet "Demon Box" gar als "eines der besten Rockalben überhaupt". Nach zwei weiteren EPs ("Mountain" sowie "Another Ugly EP") wechseln Motorpsycho vom auf derben Gothic-Sound spezialisierten Indie 'Voices Of Wonder', mit dem man heute noch erbittert im Rechtsstreit liegt, auf nationaler Ebene zur Industrie.

  In der Frühphase noch etwas zottelig: Motorpsycho (1995)
 
In der Frühphase noch etwas zottelig: Motorpsycho (1995)

Mit "Timothy's Monster" (1994), "Blissard" (1996) und "Angels & Daemons At Play" (1997) gelingt es der Band, den Fankreis über die Grenzen Norwegens heraus kontinuierlich zu vergrößern, darüber hinaus spricht sich schnell herum, dass Motorpsycho eine fantastische Live-Band sind. Wie kaum eine andere Gruppe verstehen sie es, das Spiel zwischen lauten und leisen Passagen, zwischen Melodie und ungezügelter Gitarren-Eruption auf der Bühne zu zelebrieren und das Publikum auf einer Länge von meist über zwei Stunden zu begeistern.

1998 schaffen Motorpsycho dann mit "Trust Us" das Kunststück, das überbordende Blubbern Radioheadscher Elegien mit den ausschweifenden Dynamik-Eskapaden später Smashing Pumpkins-Opern und einer Prise kranker Soundgarden-Rhythmik zu verbinden. Ergebnis sind Alternative-Hits ("Ozone", "Evernine") ebenso wie wunderschön schillernde, epische Übertracks ("Vortex Surfer"). Das, wofür vergleichbare Acts Monate und gigantische Produktionskosten benötigen, wird von Motorpsycho in unglaublichen sieben Tagen in atemberaubender Tiefe und Reife aufs Band gezaubert. Ein Album, das auf kongeniale Weise in Form vollendeter Song-Perlen alles bis dato Geschehene zusammenfügt, bevor Motorpsycho mit dem im besten Sinne klassizistischen "Let Them Eat Cake" abermals das Ruder herum reißen. Rechtzeitig zum zehnjährigen Band-Jubiläum zeigen sich die Norweger von einer bislang unbekannten Seite: Sie toben sich an streng durchkomponierten, detailverliebt orchestrierten Mini-Opern à la Beatles oder Beach Boys aus. Da tönen echte Hörner, schmeicheln Streicher, und die verzerrten Klampfen bleiben zur Abwechslung fast vollständig im Schrank, statt dessen beherrschen an Brian Wilson geschulte Mini-Epen im Sixties-Style das farbenfrohe Bild. Wer diesem Album die ihm gebührende Muße gewährt, dem erschließt sich ein wahres Feuerwerk. Das erstaunliche daran ist allerdings, dass den Norwegern gerade mit dieser eigentlich "unmodernen" Produktion erstmals der Einstieg in die deutschen Verkaufscharts glückt.

Der dieser Tage erschienene EP-Nachschlag "Barracuda" schließlich entführt den blinzelnden Hörer dann in Richtung energischer, vor Spiellaune schier überbordender Schweinerock-Gefilde. Sämtliche Songs stammen aus den Aufnahme-Sessions für "Let Them Eat Cake", doch es war von vornherein klar, dass es eine separate Veröffentlichung geben würde. Damals erklärte die Band, dass die Stücke völlig anders seien, als das Material, das letztlich auf "Let Them Eat Cake" gelandet ist. Obgleich jenes in seiner Gesamtheit ungleich filigraner und ambitionierter herkommt, stehen aber zumindest einige der Titel auf "Barracuda" durchaus in einer Reihe mit Songs wie "Never Let You Go" oder "Walkin' With J.". Was die Scheiben indes fraglos miteinander verbindet, sind die verwendeten Klangfarben wie Bläser, Piano oder Hammond und diese spezifischen Sixties-, Früh-Seventies-Vibes. Beide sind ähnlich eklektizistisch, wählen dabei aber einen unterschiedlichen Blickwinkel.

Was sich im Vorfeld der Veröffentlichung zutrug, ist allerdings eine weniger erfreuliche Geschichte: Gerade als sich die Wogenrund um Netz-Enfant Terrible Shawn Fenning und seine Tauschbörse Napster ein wenig zu glätten schienen, geraten ausgerechnet die integren Norweger in die Diskussion um unerlaubte Piraterie vs. unaufhaltsamen Fortschritt. Denn schon Wochen vor dem anberaumten Veröffentlichungstermin stand "Barracuda" für jeden zugänglich auf www.napster.com. Der einzige, der sich durch den Hokuspokus nicht aus der norwegischen Ruhe bringen lässt, ist Frontmann Bent Sæther, der uns telefonisch Auskunft zu den letzten Entwicklungen gab.

Bent Sæther / Motorpsycho (1999); Foto: Johannes Grau / Fotex.  
Bent Saether: " Es dürfte noch Jahre dauern, bis die Leute sich tatsächlich mit gesichtslosen MP3-Files zufrieden geben werden. Das ist ein psychologisches Phänomen, das ich von mir selbst nur zu gut kenne: Ein mir wichtiges Album will ich besitzen."
 

Alles klar in Trondheim? Es muss um diese Zeit ziemlich kalt und ungemütlich bei euch sein.
"Nicht wirklich, wir hatten hier den mildesten Herbst seit Dekaden. Es hat noch nicht einmal geschneit. Ich komme eben vom Fußball-Training - im Freien, wohlgemerkt. Wir kicken in der lokalen ... ähm ... Betriebsliga. Da unsere Mannschaft ausschließlich aus Musikern besteht und die oft unterwegs sind, können wir uns den Titel allerdings abschminken." (lacht)

Wie du wohl schon weißt, besteht zumindest einer der Gründe für dieses Gespräch in den dubiosen Vorgängen rund um eure aktuelle EP "Barracuda". Soweit ich informiert bin, sollte sie ursprünglich im Spätsommer erscheinen. Warum die Verzögerung?
"Es gab im Grunde keinen genauen Plan dafür, wann die betreffenden Songs, die wir ja zusammen mit dem Material von 'Let Them Eat Cake' aufgenommen hatten, veröffentlicht werden sollten. Uns war lediglich klar, dass es irgendwann in Kooperation mit 'Man's Ruin' passieren würde. Leider erwiesen sich jene als ziemlich langsam. Tja, und mittlerweile steht sie nun halt bei Napster."

Findest du es nicht auch zynisch, dass es ausgerechnet eine Indie-Band wie Motorpsycho trifft, die für ihre Integrität und eine äußerst loyale Haltung gegenüber ihren Fans bekannt ist?
"Es klingt schon ein wenig bitter, sicher, aber letzten Endes ist mir das eher egal. Die Anzahl derjenigen, die sich so etwas runterladen, ist heute noch sehr überschaubar. Das beschränkt sich auf die engsten Fans, und genau die besorgen sich unser Album nach der Veröffentlichung ohnehin nochmal regulär, weil sie das Artwork haben wollen. Zudem hat sich 'Let Them Eat Cake' für unsere Verhältnisse sensationell verkauft obwohl die Aufnahmen recht kostspielig waren, befinden wir uns bereits dick im Plus. In Norwegen gehen Motorpsycho mit 20.000 abgesetzten Einheiten übrigens durchaus als Mainstream-Band durch! Nicht, dass wir reich wären, aber zumindest können wir problemlos davon leben. Was 'Barracuda' zusätzlich einspielt, wäre demnach ein angenehmes Zubrot. Dennoch kann ich gut verstehen, dass unser reguläres Label 'Stickman' angepisst ist."

Hat sich denn deine generelle Haltung gegenüber Napster als Tauschplattform durch die jüngsten Geschehnisse verändert?
"Ich muss zugeben, dass ich mich mit dem ganzen Kram bis dato wenig beschäftigt habe. Einerseits finde ich es sogar cool: ich bin doch selbst auch ein Fan und besorge mir Bootlegs von Künstlern, die ich verehre. Soll ich mich da jetzt hinstellen und das verteufeln? Das wäre verlogen. Natürlich fügt die Sache andererseits unserem hart erarbeiteten Verdienst potenziellen Schaden zu. Ich bin allerdings überzeugt, dass es noch Jahre dauern dürfte, bis die Leute sich tatsächlich mit gesichtslosen MP3-Files zufrieden gehen werden, wenn sie ebensogut erfahrbare Platten bekommen können. Das ist ein psychologisches Phänomen, das ich von mir selbst nur zu gut kenne: Ein mir wichtiges Album will ich besitzen."

Zumindest lenken derartige Vorfälle vom Wesentlichen ab: der Musik.
"Stimmt, aber da ist es in der letzten Zeit ohnehin zu einer gewissen Entwertung gekommen. Die Leute reden oft gar nicht mehr von Songs, sondern von 'Tracks', deren Qualität sich in Megabytes ausdrücken lässt. Was natürlich wiederum ursächlich mit dem Overload an Information zusammenhängt, dem die Menschen heutzutage schutzlos ausgeliefert sind. Du hast gar keine Zeit mehr, dich in aller Tiefe mit etwas auseinanderzusetzen. Musik macht da leider keine Ausnahme."

Lass uns über Erfreulicheres reden, nämlich den kraftstrotzenden und dennoch intelligenten Retro-Rock auf "Barracuda". Ich musste automatisch an die Achtziger-Pomp-Band Heart denken - zumal der Opener auch noch ausgerechnet den Titel "Heartbreaker" spazieren führt.
(lacht ...) "Um Gottes Willen, das ist mir noch gar nicht aufgefallen! Nein, der Grund für den Titel liegt ganz banal im verwendeten Cover-Artwork: einer Anzeige für den Plymouth Barracuda aus den Siebzigern. Als Fisch symbolisiert der Barracuda Aggressivität und Biss - das passte einfach perfekt zum knarzigen Rock'n'Roll der Scheibe." (Mittlerweile wurde das Artwork noch einmal geändert - kurz vor VÖ stellte sich heraus, dass ein fast identisches Cover bereits von einer anderen Band benutzt worden war - Anm. des Verf.)

Wenn man sich Energie-Schübe wie "Up 'Gainst The Wall (High Time)" oder das urbane Verfolgungsrennen "Vanisbing Point" anhört, so wird offensichtlich, dass ihr im Studio eine Menge Spaß gehabt haben müsst.
"Oh, definitiv. Dabei ist es andererseits verdammt schwierig, solche Songs zu schreiben, ohne dass es lau und vorgekaut wirkt. Weil es diesen Kram mitsamt der Klischees schon so lange gibt, sind die Möglichkeiten der Interpretation arg begrenzt. Uns geht es nicht um einen Akt purer Wiederholung, sondern um die möglichst originelle Überführung in unseren eigenen Kontext. Die Kompositionen sollen für sich stehen können - neben all den Genre-Großtaten anderer Bands."

Bent Sæther: Die Leute reden oft gar nicht mehr von Songs, sondern von 'Tracks', deren Qualität sich in Megabytes ausdrücken lässt. Was natürlich wiederum ursächlich mit dem Overload an Information zusammenhängt, dem die Menschen heutzutage schutzlos ausgeliefert sind.

Mit "Dr. Hoffmann's Bicycle" ist auch ein grandios-schlichter Popsong enthalten.
"Das ist eine relativ betagte Nummer. Entstanden ist sie bereits irgendwann 1996-97 im Vorfeld der 'Angels & Daemons At Play'-Produktion, nur haben wir über die Jahre nie ein zufrieden stellendes Arrangement gefunden. Da half selbst mehrmaliges Aufnehmen nichts. Auch für 'Trust Us' war Herr Hoffmann im Gespräch, da er eine adäquate dynamische Größe besitzt, insbesondere zum Ende hin."

Dr. Hoffmann - war das nicht dieser Schweizer ...
"... der aus Versehen das LSD entdeckt hat, ganz recht. Stell dir das mal vor: Der Typ experimentiert nichtsahnend an einem Grippe-Medikament herum. Er ist derart vertieft in seine Bastelei, dass er diesen winzigen Tropfen nicht bemerkt, den er am Finger hat. Die schweizer Berge jedenfalls dürften ziemlich mächtig ausgesehen haben, als er am Abend nach Hause geradelt ist." (lacht)

Da ich bis jetzt lediglich ein halbübersteuertes Tape zur Verfügung habe: Wovon handelt "Glow", das mit seinem orchestralen Schlussteil gleichfalls latent an die "Trust Us"- Epen gemahnt?
"'Glow' ist ein Lovesong, ganz schlicht: 'I'd give my soul to glow, the way you do' - das Gefühl kennt hoffentlich jeder."

Im Bläser-verzierten "Star Star Star" wiederum scheinst du dich über das oberflächliche Gehabe jener Durchschnitts-Rockstar-Typen zu amüsieren, die man tagtäglich auf MTV bewundern darf.
"Exakt. Hin und wieder bekomme ich diesbezüglich die Krise. Ich selbst sehe an dieser Art von Celebrity-Status nicht viel Positives - bekannt zu sein besitzt für mich keinen eigenständigen Wert. Darauf kann man sich doch nicht allen Ernstes etwas einbilden, oder? Doch genau das passiert in diesen einschlägigen Postillen jeden Tag. Die auflagenstärkste Zeitschrift Norwegens z.B. ist ein verdammtes Gossip-Magazin, und die darin abgefeierten Leute haben in der Regel nicht das Geringste geleistet. Fuck that!"

Nun seid ihr aber zumindest in Norwegen selbst Popstars: Sowohl "Let Them Eat Cake" als auch beide ausgekoppelten Singles schossen von null auf Platz eins der Charts. Wie fühlte sich das an?
"Solange man mich als Privatperson in Ruhe Milch einkaufen lässt und neben meiner Funktion als Mitglied von Motorpsycho auch noch als Menschen wahrnimmt, habe ich damit keine Probleme. Dennoch war es nie unser Ziel, prominent zu sein. Wir sind nicht die Typen, die danach geiern, auf der Gästeliste jedes beschissenen Gigs aufzutauchen, der jemals gespielt wurde. Ich stelle mich gerne hinten an einer Schlange an."

Neben "Barracuda" habt ihr mit "The MotorSourceMassacre", dem schrägen Mitschnitt eines Gigs aus dem Jahre 1995 zusammen mit den Freejazzern The Source sowie Deathprod. am Sampler, erst kürzlich die zweite Ausgabe eurer "Roadwork"-Liveserie veröffentlicht. Zwei Bands, die simultan auf einer Bühne miteinander spielen - oder sollte ich besser sagen: gegeneinander?
"Es war sicher ebenso sehr Kampf wie Kooperation, das stimmt schon. Das Irre an diesen Aufnahmen ist jene spezielle Energie, die ich nirgends zuvor in dieser Form gehört habe. Ich weiß nicht so recht, ob man es wirklich gute Musik nennen sollte, aber dieser Vibe ist magisch." (lacht)

Gibt es denn schon Ideen für eine nächste Folge?
"Noch nichts Konkretes. Unser holländischer Live-Engineer Pieter Kloos gräbt sich derzeit durch sämtliche Aufnahmen der letzten Tour. Beispielsweise existieren einige wirklich cool gespielte 20-Minuten-Versionen von 'Whip That Ghost', die einen Release verdient hätten."

Wie ich hörte, arbeitet ihr zur Zeit auch schon am nächsten regulären Studio-Album. Hat sich dabei bereits eine Art genereller Trend herausgebildet, den du uns verraten könntest?
"Bislang existieren zehn neue Songs, die wir im November geschrieben und vorproduziert haben. Mit denen, die noch auf Halde liegen, können wir also auf insgesamt 35 Titel zurückgreifen, wovon wir ab Anfang März schließlich eine Handvoll im Osloer Studio des Engineers der letzten Aha-Platte aufnehmen werden. Es ist allerdings noch zu früh, über eine Grundausrichtung zu reden, zumal wir ja auch noch Neues probieren werden. Uber Weihnachten ist jetzt erst einmal Sichten und Ordnen angesagt. Vielleicht soviel: Einige der Sachen erinnern mich latent an die erste Scheibe von Big Pink - extrem moody und düster, wenig Rock, aber dennoch irgendwie nasty. Sogar Walzer sind dabei."

Letztendlich kann und will auch Bent Sæther noch nicht genau definieren, wo die Reise letztlich hingehen wird. Seiner Einschätzung nach wird ein Großteil des bislang fertig gestellten neuen Materials für den nächsten Longplayer stilistisch näher an "Let Them Eat Cake" als an "Trust Us" sein. Wir werden es erfahren, beizeiten. Glänzende Augen haben wir schon jetzt.

Patrick Großman

Fünf Fragen an
Jeanette Gustavus,
Mitinhaberin des betroffenen
Motorpsycho-Indielables
'Stickman Records':
  Jeanette Gustavus / Stickman Records

Was genau ist vorgefallen? Oder besser: Wieviel davon willst du preisgeben?
"Über einen Mitarbeiter unseres geplanten Kooperationspartners für die Veröffentlichung der betroffenen Platte in den USA ist eine Kopie an einen sehr aktiven Bootleger gelangt und von dort aus dann irgendwie als MP3-File auf die Napster-Seite. Wahrscheinlich steckt nicht mal böser Wille dahinter, sondern blanke Unachtsamkeit. Eine weitere Zusammenarbeit jedoch ist unter solchen Vorzeichen natürlich illusorisch."

Läßt sich schon abschätzen, was ein derartiger Vorfall für ein kleines Label wie euch konkret bedeutet?
"Ich bin mir letztlich noch nicht sicher, ob die Aktion der Band oder uns unbedingt finanziell schadet oder eventuell sogar als zusätzliche Promo-Aktion taugt. Leider sind Motorpsycho keine reichen Superstars, denen ein paar verkaufte Alben mehr oder weniger wurscht sein können - die können gerade mal davon leben. Der einzige greifbare Effekt besteht vorerst darin, dass wir uns als Label Gedanken machen, wie man so etwas in Zukunft verhindert. Dabei habe ich im Grunde gar nichts gegen den freien Tausch als Idee, solange er sich auf bereits erschienenes Material beschränkt. Diese Platte aber war aber noch nicht einmal im Presswerk."

Was schwebt euch da als probates Gegenmittel vor? Hundertprozentiger Schutz dürfte wohl zunehmend utopischer werden.
"Das wird eine Gratwanderung zwischen vernünftiger Promoarbeit und Verschleierungstaktik. Ich hasse es eigentlich, aus Angst nur noch Outtakes oder wenige Songs eines Albums zu verschicken, doch vielleicht bleibt uns tatsächlich nichts anderes übrig. Denn Napster wächst, und jedes Programm ist nur so moralisch wie derjenige, der davor sitzt und es bedient."

Hast du mir etwa deshalb ein heillos übersteuertes Tape von "Barracuda" geschickt?
(lacht) "Nein, das war ein Versehen, wirklich! Wir selbst besitzen derzeit nicht mal einen CD-Brenner. Obwohl, du hast Recht: Womöglich ist das die Alternative!"

Kurz vor Ultimo musste dann auch noch das Artwork geändert werden, da sich herausstellte, dass es in nahezu identischer Form bereits von unbekannten Kollegen eingesetzt worden war.
"Es scheint beinahe, als habe sich alles gegen diese Platte verschworen! Wir nennen sie nur noch 'the record that never will happen' ... "

Patrick Großman