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Kuchenbäcker auf Abwegen

Article / Interview around the release of Let Them Eat Cake
taken from the
German alternative rock-magazine
VISIONS #83 / February 2000.
In German.


Berlin, Anfang Dezember 1999. Habe soeben zum ersten Mal das neue MOTORPSYCHO-Album „Let Them Eat Cake“ gehört und verstehe die Welt nicht mehr. Wo sind die fetten Gitarrenwände? Was hat dies hier noch mit Space-Rock-Epen zu tun? Und welche Drogen muss man nehmen, um solch göttliche Harmonien zu ersinnen - norwegisches Bergmoos etwa? Fragen über Fragen, die allesamt der Klärung harren. Also packen wir’s an...

Nahezu zwei Jahre hat es nach dem ‘98er Meilenstein „Trust Us“ gedauert, bis sie das nächste reguläre Studioalbum am Start hatten - für Motorpsycho, eine halbe Ewigkeit. „Nach den Festival-Gigs in Roskilde und beim Hurricane waren wir total ausgebrannt“, erzählt Geb und nippt am Kaffee. „Ursprünglich hatten wir als Release-Date den Herbst angepeilt, doch uns wurde klar, dass es für Stress und Hetze keinen zwingenden Grund gab. Also nahmen wir uns die Zeit, das Album in Ruhe zu Ende zu bringen.“ Mit der bemerkenswerten Diskrepanz zwischen äußerlicher Betriebsamkeit und innerer Ruhe, die in den schleichenden Entwicklungen ihrer Songs ihre musikalische Entsprechung findet, haben die Drei es mittlerweile auf eine zehnjährige Geschichte gebracht. Wie fühlt man sich denn so als Jubilar? Geb überlegt: „Schläfrig. Müde. Aber auch erfüllt. Wir hatten immerhin kürzlich unseren ersten wirklichen Urlaub und haben ganze drei Monate keine Instrumente angerührt - bislang völlig undenkbar für uns.“ - „Ja, es war ein komisches Gefühl zu verreisen, ohne an Arbeit und Musik zu denken“, pflichtet Bent bei. „Dafür war die erste Hälfte des vergangenen Jahres die wahrscheinlich anstrengendste, die wir je erlebt haben. Ein nicht endender Kreislauf aus Aufnehmen, Touren und Proben. In dieser Zeit war ich, wenn’s hoch kommt, drei Monate in Trondheim. Wir wurden vom Tourbus im Studio abgeholt, der uns dann direkt raus nach Europa brachte. Einige Wochen später hielt das Teil wieder dort, und wir stolperten zurück an unsere Instrumente.“

Doch nun ist alles anders: Ihre bisherigen Trademarks - enorm dynamische, ausufernde Spacerock-Epen, die die Melancholie mit Löffeln gefressen zu haben schienen und dann urplötzlich alles per Gitarrenwand nieder walzten, was sich ihnen in den Weg stellte - haben Motorpsycho auf „Let Them Eat Cake“ beiseite gelegt und sich dafür mit strahlend-kindlichem Entdeckerblick dem klassischen 60er-Jahre-Popsong anvertraut. Tracks wie das im Refrain latent an Hendrix’ „Crosstown Traffic“ erinnernde „Walkin’ With J.“, das vergnügt daherhüpfende „Big Surprise“ oder „Never Let You Out“, bei dem Geb seine Initiation als Sänger feiert, versprühen ein Kontingent an guter Laune, das man im sonnenarmen Norden kaum vermuten würde. Wahre Füllhörner süßlicher Melodien gibt es da zu bestaunen, nicht selten verziert von mehrstimmig-beatlesken Harmoniegesängen und über weite Strecken akustisch instrumentiert. Komplettiert wird der wiederum zusammen mit Deathprod. produzierte Reigen durch ein aufwendig arrangiertes, opulentes Streichquartett nebst Bläsersektion, was Titel wie die erste Single „The Other Fool“ beinahe in Art-Rock-Gefilde überführt. Bent: „Wir nennen sowas ‘Mini-Symphonies’. Sie funktionieren tatsächlich ähnlich wie etwa ‘Good Vibrations’ von den Beach Boys: viele kleine Einzelteile, aber dennoch ein geschlossenes Ganzes von nicht mehr als fünf Minuten.“ - „Im Gegensatz zu früher ist diese Platte nicht improvisatorisch aufgebaut, sondern überaus klar strukturiert und durchkomponiert“, ergänzt Snah. „Wenn du dich jedoch länger mit den neuen Songs auseinander setzt, dann wirst du entdecken, dass alles, was Motorpsycho schon immer ausgemacht hat, noch da ist. Bloß ein bisschen versteckter halt."

Was war denn letzten Endes der Anstoß für eine solch einschneidende Kurskorrektur? „Nun, die Lautesten, Härtesten und Spacigsten waren wir schon. Das ist einfach keine Herausforderung mehr; wir sind schließlich nicht Status Quo. Warum also sollen wir krampfhaft versuchen, diese Grenzen noch weiter hinauszuschieben. 'Trust Us' bestand im ganzen aus nicht viel mehr als drei Akkorden - es hat tierischen Spaß gemacht, diese harmonische Limitiertheit durch dynamische Prozesse auszugleichen, aber das Thema ist ausgereizt. Sicher werden wir einmal dorthin zurückkehren, aber im Moment ödet uns diese Vorstellung an. Diesmal war unser vornehmliches Ziel eine Art stilistischer Geschlossenheit. Die 'Roadwork'-Liveplatte ist ein wildgewordener Elephant, der durch den Dschungel stampft, während 'Let Them Eat Cake' sich subtil aus dem Hinterhalt an dich heranpirscht." Bent stimmt dem vorbehaltlos zu: „Man braucht beides, um zu existieren: Kuchen und Brot. Es geht auch mal ohne plötzlich einsetzenden Gitarrenkrawall. Ganz davon abgesehen, dass er eben nicht mehr plötzlich ist, wenn man auf ihn wartet. Irgendwann hast du genug Mammuth-Songs in Moll geschrieben. Ein kurzer, knackiger, gutgelaunter Popsong ist eine Kunst für sich!" Hat man denn gar keine Angst davor, dass die eigene Gefolgschaft den Schwenk missversteht und sich verwirrt abwendet? „Schon ein bisschen, um ehrlich zu sein", gibt Bent offen zu. „Ich denke, davon kann man sich nicht völlig freimachen, wenn man von seiner Musik tatsächlich lebt. Darauf spielt übrigens auch der Titel an: Als während der französischen Revolution die Bürger die Barrikaden stürmten und nach Brot verlangten, da sagte Marie Antoinette nur abschätzig: Laßt sie Kuchen essen! Natürlich gab's keinen Kuchen. Das Volk war nach dieser Aktion dermaßen aufgebracht, dass die gute Frau per Guillotine hingerichtet wurde. So ähnlich fühlen wir uns mit dieser Platte: Here it is! If you wanna kill us, go ahead! Wir waren es uns selbst schuldig, in Ruhe nach neuen, für uns spannenden Wegen zu suchen."

Doch keine Sorge: Auch für den Gitarrenbrett-Adepten in uns besteht begründeter Anlass zur Hoffnung. Vorraussichtlich bereits im Spätsommer soll es eine weitere EP geben, die den ausgeklammerten härteren Teil der Sessions dokumentiert. Erscheinen wird sie in Amerika auf Frank Kozik's 'Man's Ruin'-Label (dessen Macher darüber hinaus die Covergestaltung übernommen hat), während man für Europa mit 'Stickman's Ruin' eigens ein Joint Venture aus der Taufe hob. Was stand einer Veröffentlichung als Doppel im Wege? „Nun, es passte einfach nicht zum Rest, das sind zwei Welten", erwidert Bent. „Jene sieben Tracks sind wirklich Rock'n'Roll, viel direkter noch als die 'Trust Us'-Songs - im besten Sinne konservativ und sehr bluesy! Das Zeug klingt wie eine Mischung aus Creedance Clearwater Revival, den Rolling Stones und MC 5, geradezu prädestiniert zum Biertrinken."

Doch zurück zum Wesentlichen: der Musik des aktuellen Geniestreiches. Erst jetzt wird verständlicher, was Snah bei unserem letzten Gespräch vor eineinhalb Jahren andeuten wollte, als er meinte, er höre „zur Zeit fast nur Happy-Hippie-Stoff". Dieser nickt: „Ja, es ging uns um jene besondere Art von Flow. Diesen Sound von dicker Luft, den trotzdem eine unbeschreibliche Leichtigkeit auszeichnet. Danach haben wir mehr als ein halbes Jahr im Proberaum gesucht. Als wir damals in den 80ern anfingen, hatten Snare-Drums die Maße eines Tisches - sie waren tief und laut. Zusätzlich legte man künstlichen Hall auf das Signal, und fertig war die Monster-Heavy-Ballade! Jetzt hör' dir im Gegensatz dazu mal Musik aus den frühen Siebzigern oder späten Sechzigern an: Dort hat das Schlagzeug nicht nur einen viel natürlicheren Sound, es besitzt eine völlig andere Tradition. Es ist ein Instrument!" - „Diese ganz speziellen Nuancen wollten wir kompromisslos auskosten, also schleppten wir vier verschiedene Drumkits und Wagenladungen voller Amps ins Studio", führt Geb weiter aus. „Jeder Song benötigt seinen ganz eigenen Sound, seinen eigenen Raum - es geht um die richtige Balance, und die findest du nur durch immer wieder neue Testaufnahmen." Und viel Zeit im Proberaum, denn bezüglich der Arrangements haben die drei Perfektionisten, die täglich mehrere Stunden an Songideen feilen, diesmal keine Mühe gescheut: „Allein, um den richtigen Groove für 'The Other Fool' herauszufiltern, verschanzten wir uns von November bis Dezember '98 im Studio", erläutert Bent. „Letztlich bestimmt das Material selbst, wie du es aufnehmen musst. 'Trust Us' bestand aus vielen eigentlich kleinen Songs, die wir mit langen Drones gekoppelt haben. Wenn wir so etwas vor uns haben, dann fangen wir im Studio an zu improvisieren, genau wie auf der Bühne. Dieses Mal stand Takt für Takt von vornherein fest, was passieren würde. Nur bei 'Stained Glass' und 'Whip That Ghost', einer Hommage an Duanne Allman, gibt es frei gespielte Sequenzen."

Zu derartiger Freiheit bestand diesmal indes auch kaum die Möglichkeit, denn dazu sind die Orchester-Parts zu dominant. Das wirklich Aufsehen erregende daran ist die enorm flüssige, geschmackvolle Synthese, die an Kollegen wie Mercury Rev denken läßt: Zu keiner Zeit kommen sich Band und klassischer Klangkörper in die Quere. Bent winkt ab: „Es hört sich größer an als es tatsächlich ist: ein Streichquartett, einige Bläser, das ist es schon fast. Der Eindruck entsteht in erster Linie dadurch, dass wir so viel Platz für sie gelassen haben. Nimm' beispielsweise 'The Other Fool': Da lässt sich unser Part reduzieren auf eine Akkustikgitarre, einen Bass und etwas Drums. Die Streicher sind alles andere als Beiwerk." Verantwortlich für die minutiösen Arrangements ist mit Baard Slagsvold ein alter Freund der Norweger, der sie in Zukunft auch live verstärken wird. „Eigentlich ist Baard Jazzpianist und Kontrabassist in einem Pop-Trio namens Three Small Trainees. Das Toole war, dass er auf Anhieb verstand, was wir brauchten - er findet von selbst seine Nischen. Ein perfekter Sparring-Partner, der fähig ist, die tragenden Streicher-Stimmen per Keyboard oder Mellotron zu spielen und zudem noch exzellent singt. Selbst beim Improvisieren kommt er uns hinterher!" - „Snahs Kenntnisse von Tasteninstrumenten sind doch eher rudimentär", witzelt Geb. „Sicher, er beherrscht den Anfang von 'Für Elise', aber das war's dann auch. Als Baard auftauchte, war das enorm befreiend, denn bis dato blieb live meist zwangsläufig etwas auf der Strecke - mal der Bass, mal die Gitarre. Sogar die alten Stücke können wir so ganz anders spielen. Während einer Kurztour durch Norwegen haben wir getestet, ob das mit uns und ihm klappt. Wir checkten all seine Gewohnheiten ab, etwa, ob er zuviel säuft oder schnarcht (lacht)."

Beides Probleme, die mit ansteigendem Alter in der Regel eher zu- denn abnehmen. Wie passend also, dass sich Bent im wunderschönen, von Hörnern eingeleiteten Schlußpunkt „30/30", das neben „Stained Glass" noch am eheseten die Traurigkeit früherer Tage konserviert hat, mit jener magischen Schallgrenze beschäftigt: „Es geht dabei weniger darum, dass ich selbst mich mit 30 nun alt fühle, sondern um eine Diskrepanz. Mir fiel auf, wie relativ diese Zahl doch eigentlich ist. Als ich kürzlich aus meiner staatlichen Wohnung rausflog, da hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben genügend Geld in der Tasche. Ich setzte mich hin und überlegte: Soll ich mir eine Bleibe kaufen? Oder etwas anderes? Alles wäre ohne Schwierigkeiten drin gewesen. Das Problem war nur: Mir fiel partout nichts ein, was ich gebraucht hätte - ich war glücklich! Von Midlife-Crisis weit und breit keine Spur. Ganz im Gegenteil zu meinen Kumpels von früher: Guck dir doch deine normalen Freunde an: Fast alle sind sie frustriert und unzufrieden, weil sie ihr Leben an irgendeine Firma verkauft haben." Und das ist wohl das Letzte, was man Motorpsycho vorwerfen kann. Die gehen unbeirrbar ihren Weg, und schieben gegen Ende des Jahres sogar noch den zweiten Teil der „Roadwork"-Serie hinterher - laut Geb nach den Noise-Ausbrüchen des Vorgängers ein „recht skurilles Paket: Es handelt sich um einen Auftritt aus dem Jahre 1995 mit Deathprod. und einer norwegischen Free Jazz-Band namens The Source, die sich an Leuten wie Ornette Coleman orientiert. Da wir damals noch deutlich härter waren ein wirklich spaßiger Trip. Wir hatten keine Songs zusammen erarbeitet, geschweige denn gab es eine Probe oder ähnliches. Bevor wir auf die Bühne gingen, malten wir uns grafisch auf, wie und wann in etwawas passieren könnte, nach dem Motto: 'Okay, wenn du mich das hier spielen hörst, dann steigst du dort ein.' Keiner von uns wusste, was da oben vor sich gehen würde."

Gleichfalls weithin unbekannt dürfte die Tatsache sein, dass die drei Ruhelosen in ihrem Heimatland inzwischen sogar internationale Ikonen vom Schlage Nirvana, Beatles oder U2 locker auf die Plätze verweisen. Bei einem jüngst veranstalteten Internet-Contest des einzigen nationalen Rocksenders 'P3' setzte sich ihr Übersong „Vortex Surfer" knapp gegen Europes unsäglichen „Final Countdown" durch und wurde am 31.12.1999 24 Stunden lang nonstop(!) gespielt. Das freut nicht nur das Ego, sondern spült zudem satte 50.000 Mark an GEMA-Kohle in die Band-Kasse. Auf hiesigen Bühnen sind Motorpsycho dann wieder Ende März / Anfang April zu bewundern. Fragt sich abschließend nur noch, was man als nächstes serviert bekommt. HipHop vielleicht? Oder Polka? Bent muss lachen: „Yeah, Polka would be cool! Motorpolka, klasse Name eigentlich, oder?" Stay tuned!

Patrick Großmann